Kerstin als Carmen

nach der Oper von Georges Bizet / Wettbewerbsbeitrag

für den Peter-Konwitschny Nachwuchsregiepreis, Eisenach 2005

 

[vc_row][vc_column width=“1/1″][vc_accordion collapsible=“yes“ active_tab=“false“][vc_accordion_tab title=“Über den Wettbewerb“][vc_column_text]

3663

‚Carmen‘ lautete die Vorgabe des 2005 vom Theater Eisenach ausgelobten Peter Konwitschny Nachwuchsregiepreises. Für die unkonventionelle Idee von ‚Kerstin als Carmen‘ reichte es für die Finalrunde, dort überzeugte dann aber ein anderer Beitrag mehr. Trotzdem glaube ich, dass die Geschichte der alleinreisenden Urlauberin, die ein ganz anderes Spanien erlebt, als das ihrer exotischen Träume, aktueller denn je ist. Vielleicht wird sie ja eines Tages so auf der Bühne erzählt? [/vc_column_text][/vc_accordion_tab][/vc_accordion][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][vc_column_text]
[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column width=“1/1″][vc_accordion collapsible=“yes“ title=“Carmen – ein Konzept für Erlebnistourismus“ active_tab=“false“][vc_accordion_tab title=“Gate 1875 / Ausgangssituation“][vc_column_text]

11239

Welche Geschichte erzählt Carmen? Ein einfacher Mann vom Land verliebt sich in eine geheimnisvolle Frau, gibt für sie Verlobte und berufliche Stellung auf und bringt sie am Ende aus Eifersucht um.
Identifikationsträger von Bizets Oper ist auf den ersten Blick José. Carmen scheint nur ein seltsames, fremdartiges Vögelchen, eine Unglücksbotin, eine mysteriöse Verheißung, die den unaufhaltsamen Gang der Handlung hin zur Katastrophe vorantreibt. Wer ist diese Frau? Diese Frau ist sexuell begehrenswert und sie ist frei. Frei in ihren Entscheidungen. Und sie ist eine Zigeunerin, einer Frau ohne feste Heimat, ein Mensch ohne Ort. Deshalb eine utopische Frau, und darum auch eine Männerphantasie.
Den Strömungen seiner Zeit folgend – vor allem durch die Weltausstellung in Paris 1867 war ein großes Interesse an exotischen Ländern entstanden – schafft Bizet in seiner Oper eine Art Phantasie-Spanien, was sowohl die musikalische Ausarbeitung als auch das Temperament der Handelnden angeht.
Deshalb erscheint es legitim zu fragen, wo sich so ein phantastisches Spanien denn heute befinden würde. Eine bloße Umsetzung unter Bedienung der folkloristischen Traditionen von Corrida und Flamenco wird vor allem eines: museal.
Die Emotionen zwischen den Figuren sind aber zeitlos und von all der Kraft und Selbstverständlichkeit, mit der die fiktive Carmen sich gegen die Vereinnahmung durch die sie umgebenden Männer stellt, träumen andere Frauen nur. Die gesellschaftliche Realität des Jahres 2005 hängt in gewisser Weise immer noch einem Exotismus nach, aber in anderer Form – nicht mehr das kulturelle Interesse, die beinahe zoologische Neugier, sondern das geborgte Lebensgefühl, die Sinnsuche bestimmen häufig unser Verhältnis zu exotischen Ländern. Deshalb gibt es Kataloge mit glutäugigen Schönheiten. Und deshalb gibt es auch Menschen, die Flamencokurse belegen oder alleine eine Fernreise buchen. Carmen ist eine Männerphantasie, aber eben eine unbezwingbare. Deshalb erscheint sie auch als emanzipatorisches Rollenmodell, als Flucht aus der Selbstaufgabe in der Ehe, als fleischgewordene exotische Selbstverwirklichung. Welche Frau, die im Urlaub nach Spanien fährt, wäre nicht einmal gerne Carmen, wenigstens für 15 Minuten? Spanien kann hier natürlich auch die Karibik, Thailand oder ein anderer beliebiger Strand sein, allerdings darf man nicht vergessen, das es Bizet gelungen ist, mit „Carmen“ so etwas wie eine spanische „Marke“ zu etablieren. Aida ist Ägypten, Bohème ist Frankreich und Carmen ist eben untrennbar mit Spanien verbunden, auch wenn das Werk von Bizet nicht als spanische Nationaloper gedacht war, sondern an der und als eine „Opéra comique“ uraufgeführt wurde.

 

[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][vc_accordion_tab title=“Reiseleitung / Idee“][vc_column_text]

5012

Eine verheiratete deutsche Frau Anfang 40, nennen wir sie Kerstin, die alleine nach Spanien in den Urlaub fährt, dort frei von aller Selbstbeschränkung ein Abenteuer erlebt, das leider für sie tödlich endet, weil sie nicht mit der Radikalität der Emotion gerechnet hat. Das ganze vor dem Hintergrund eines kleinen Hotels für Pauschalurlauber in dem das Animationsprogramm vorsieht, dass die Gäste eine Aufführung von „Carmen“ einüben, die den Abschluss und Höhepunkt des gebuchten Arrangements darstellt.
Auf diese Weise verschränken sich Spiel- und Realhandlung ineinander, die Grenze zwischen Wünschen, Phantasien und dem Boden der Tatsachen beginnt zu flimmern wie die Horizontlinie beim Blick aufs Meer oder die Luft über dem heißen Marktplatz von Sevilla.

 

[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][vc_accordion_tab title=“Stornogebühren / Konsequenzen“][vc_column_text]

9849

Fast jeder Darsteller erhält dadurch zwei Figuren mit verschiedenen Identitäten: den Hotelangestellten bzw. Hotelgast und seinen fiktiven Part in der „Animations-Carmen“. Die gesungenen Texte bleiben von sich ergebenden Widersprüchen unberührt, hier ist eine gewisse Irritation mitunter gewollt. Was nicht unterbleiben kann, ist eine Änderung der Dialogszenen, gerade um den doppelten Charakter der Handlung und die neu erfundenen Funktionen einiger Figuren zu erklären. Die Reihenfolge, der Charakter und der Text der Musik bleiben davon unberührt.

 

[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][vc_accordion_tab title=“Erster Akt – Im Hotel“][vc_column_text]

klingel

Das kleine Hotel „Sevilla“ für Pauschaltouristen irgendwo am Mittelmeer. Man erwartet eine große Reisegruppe aus Deutschland. Die Leitung des Hotels hat sich als Animationsprogramm etwas besonderes einfallen lassen. Gemeinsam mit dem Animateur des Hauses, Escamillo, sollen die Gäste eine Vorführung von „Carmen“ erarbeiten. Entsprechend ist der Hof des Hotels geschmückt. Auftakt soll ein großes Buffet bilden, das am Pool aufgebaut ist. José wartet hinter der Rezeption darauf, daß die Gäste eintreffen. Escamillo schafft bereits die ersten Kostüme in den Hof. Die Touristen kommen an. Ein großes Hallo. Viel Durcheinander. José gibt die Zimmernummern aus, verschließt die Wertgegenstände in den Hotelsafe. Dann schleppt er einige Koffer aufs Zimmer. Einige stürzen sich gleich auf Escamillo und lassen sich von ihm entsprechende Kostüme anpassen. Hotelbesitzer Zuniga begrüßt einige Stammgäste. Während die Frauen auf den Zimmern verschwinden um sich für den Strand umzuziehen, posieren die Männer in Versatzstücken von Soldatenuniformen im Hof. Als Michaela, die Verlobte Josés ankommt – sie versorgt das Hotel mit der Post und füllt regelmäßig den Zigarettenautomaten auf – ist José noch auf den Zimmern und sie muß die aufdringlichen Bemerkungen der mittelalten Touristen ertragen. Escamillo beginnt mit einem Arrangement seines Soldatenchors, wird aber von den vorlauten Kindern gestört, die mit Wasserpistolen eine eigene militärische Wachablösung am Hotelpool veranstalten. Zuniga, José und Escamillo unterhalten sich über die angekommenen Gäste und das geplante Programm. Zuniga ist etwas skeptisch, was die innovativen Ideen angeht. Zur Bademodenschau erscheinen die umgezogenen Damen auf der Galerie des Hotels und werfen ihren im Hof verbliebenen Gatten und den gebräunten Hotelangestellten bereits spanisch angehauchte Blicke zu. Der Duft der großen weiten Welt kommt aus dem Automaten der Tabakindustrie und keiner hat einen Dunst wo das hinführen wird. Escamillo drängelt, er hat noch nicht bestimmt, wer die Rolle der Carmen spielen soll. Er ist sich sicher, daß er sich damit besondere Gunstbezeugungen sichern kann. Das „Casting“ und die anschließende Entscheidung, bei der die blonde Kerstin mit den dicken Brillengläsern, die ohne Begleitung angereist ist, auserkoren wird, führt natürlich zu Unmut in der Damenriege. Ehe dieser Streit aber offen ausbricht, kehren alle auf die Zimmer zurück. Michaela kommt mit dem Postfahrrad, füllt den Zigarettenautomaten auf und bringt José ein Paket mit Essen und Fotos von der Mutter zuhause. Gemeinsam betrachten sie die Fotos, den Blick auf die Vergangenheit gerichtet. Nachdem Michaela fort ist, versucht sich José über seine Zukunft klar zu werden. Weiter streitend unterbrechen Kerstin und eine andere Touristin den verwirrten José, was Escamillo dazu bringt, endlich mit einer produktiven Probe zu beginnen. Eine schwarze Lockenperücke, es gibt ein paar Versatzstücke vom späteren Kostüm und schon wird José zum Don, Kerstin zu Carmen und die Rollen verwischen sich, Liebe drängelt sich durch die Musik in die Herzen. Abkühlung verschafft da nur José überagierter Sturz in den Pool nach der Flucht Carmens, wobei er leider das Buffet mit sich reißt. Das bringt ihm als Strafe zwei Wochen Kartoffeln schälen ein.

 

[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][vc_accordion_tab title=“Zweiter Akt – In der Pizzeria“][vc_column_text]

5021

Der Urlaub ist halb vorbei, ausgelassen feiert die Reisegesellschaft in der dem Hotel angeschlossenen Pizzeria „Lillas Pastia“. Escamillo tritt auf, mit großer Bühnengeste, es ist wie eine Vorausschau auf die Aufführung des Toreros-Liedes. Alle Männer wirken gehörnt, während Escamillo von einer Dame zur anderen geht und private Regieanweisungen gibt. Zwei junge Teenager flirten mit den geheimnisvoll aussehenden Italienern am Nebentisch, was ihren Eltern gar nicht behagt. Schließlich brechen (fast) alle zu einer Attraktion im nahen Ort auf. José kommt vom Kartoffelschälen aus der Küche und kann endlich einmal wieder ungestört allein mit Kerstin/Carmen sein. Als Michaela ihn überraschend besuchen will und ungeduldig unter seinem Fenster hupt und klingelt lässt er das Signal ungehört verstreichen. Hotelchef Zuniga will noch die Abrechnung aus dem Büro holen, auch er ist angetrunken. Seinen Zudringlichkeiten kann sich Kerstin/Carmen nur durch das Eingreifen der echten Mafiosi Dancairo und Remendado entziehen, die den Zigarettenautomaten des Hotels als Drogenversteck nutzen und mit José Hilfe den Tresor ausräumen wollen. Echte Pistolen hat niemand erwartet. Die beiden Teenies Mercedes und Frasquita sind von soviel Abenteuerurlaub natürlich angetan und sofort Feuer und Flamme mit den beiden aufregenden Jungs zumindest für eine Nacht durchzubrennen. José ist klar, dass er seinen Job im Hotel wohl auch los ist und folgt Kerstin/Carmen in die spanische Nacht.

 

[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][vc_accordion_tab title=“Dritter Akt – Am Pool“][vc_column_text]

regiestuhl

Man sieht das Hotel von de Straßenseite aus. Im Hof ist der Pool bereits teilweise für die anstehende Carmenaufführung präpariert. Escamillo probt mit den noch verkaterten Touristen an der Schmugglerszene.
Die echten Mafiosi haben die Mädels wieder unter dem Vorwand zum Hotel zurück gebracht, dort sei heute eine Wahrsagerin zu sehen, wollen aber nur mit Josés Schlüssel den Safe ausräumen. José muss Wache halten, Carmen und die Mädchen lassen sich die Karten legen, Escamillo und Dancairo spähen das Hotel aus. In einem günstigen Moment kehren die Mädchen zur Probe zurück. Michaela sucht den verschwundenen José, der sich vor ihr versteckt, im Hotel. Escamillo unterbricht die Probe, findet José vor dem Hotel und verwickelt ihn in einen Streit an dessen Ende José auch aus der Hotel-Carmen-Produktion herausgeworfen wird. Er versucht noch einen Blick auf Kerstin/Carmen zu erhaschen, aber die ist schon wieder mit der Probe, auf der ein Ersatz-José für ihn einspringt beschäftigt. Hinten im Hof proben die falschen Schmuggler und Escamillo verzweifelt an der Regiearbeit, vor dem Hotel findet Michaela einen verzweifelten José, dem sie eine weitere Hiobsbotschaft überbringen muss.

 

[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][vc_accordion_tab title=“Vierter Akt – Vor dem Heimflug“][vc_column_text]

5287

Der letzte Urlaubstag. Teilweise stehen schon gepackte Koffer in der Lobby. Der Innenraum der Pizzeria ist zur Garderobe umfunktioniert. Die Spiel-Arena ist fertig aufgebaut. Alle Touristen sind mehr oder minder spanisch kostümiert, Escamillo darf endlich sein enges Torerokostüm tragen und der Verkauf von original spanischen Souvenirs erreicht ungeahnte Erträge. Während die Aufführung im Hof ihrem Höhepunkt entgegenstrebt, nutzt José den Moment, Kerstin/Carmen am Fenster der Garderobe zu stellen. Ihren letzten Auftritt erreicht sie danach nicht mehr. Von José tödlich getroffen fällt sie in den Pool. Der mordende Liebhaber sitzt verlassen in der spanischen Sonne vor der blutig weißen Hotelwand. Alle sind sprachlos vor Entsetzen ob dieses etwas anderen Erlebnisurlaubs.

 

[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][/vc_accordion][/vc_column][/vc_row]

Marc

Regisseur und Dramaturg

Learn More →